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Text für September 2013

Der Countdown läuft
oder
Hab ich wirklich keine Wahl
oder
Gedanken an einem Sonntag vor der Wahl
und noch bin ich nicht aus dem Fenster gefallen
 
Habe ach, verschiedenste Wahlprogramme studiert.
Kurz- und Langversionen.
Die Kurzen mit großen, bunten Bildern
Riefen Comiclesegefühl hervor
Die langen wurden selten als Druckversionen verteilt
Steht alles im Internet, war oft die Auskunft, wenn ich danach fragte
Egal, ob so oder so, die Schrift uneinladend klein
Und das Lesen machte sooo unsagbar müde
Dann Wahlreden, die nicht der Rede wert sind
Talkshows und Wow
Die Duelle
Peinliche wichtigtuerische Moderatorenfragen
Hauptsache wir sind dabei
Denn das heißt was, auf unserer Karriereleitereierei und
Politiker mit angedrilltem Dauergrinsen
Mit großen Augen und oder auch gefalteten Händen
Ihr großes souveränes Wissen verkündend
Das Wir beschwörend und dabei das Ich und oder auch nur SICH meinend
Als alternativlose Alternative
Als die Verheißung
Als es ist doch alles so gut mit uns
Als der Aufbruch
Als bis hierher und weiter und oder nicht weiter und oder in die andere Richtung Gefloskel
Mit Kaskaden von Worthülsen
Jeweils dem politischen Gegner und potentiellem Wähler entgegenknallend
Und dann erst die Presse
Mit Ihren Meldungen, Statistiken und Spezialistengelaber
Wer kam wie lange zur Sprache
Wer hat wie oft das Wort dem anderen ent- und an sich gerissen
Dagegen im Kindergarten einem Kind gesagt wird:
Erst den anderen ausreden lassen.
Ein Satiremagazin
Wirbt eitel scheinintellektuel und satt für das Nichthingehen
Schaufelt damit der Satire
Oder hoffentlich nur sich selbst das Grab
Worin sich Tucholsky
Voll Grausen wälzt
Sein älterer, aber leicht besoffener Herr
Angesichts dessen
Einem nicht endend wollenden sprachlos machenden Schluckauf verfällt
Oder ist es ein Dauerrülpsen
Plakate Nichts sagend bis hin zum Abwinken
Deshalb Werbung für dies und jenes
Wie die für eine Praline
Wir machen die Welt für Sie leckerer
Beinahe dazu gezählt
Unterschiede kaum zu bemerken
Nur immerhin
An der Praline
Weiß ich, was ich hab
Und was sie mich kostet
Und viel lieber als im Wahllokal
Würde ich wählen in meiner Lieblingslokalität
Und feiern eine Wahlparty der Wähler
Mit Bier, Korn, Schnaps, Wodka, Whiskey, Wein
Und weinselig werden
Dass ich meine Stimme in einer Urne beigesetzt hab
Und wer rot wählt, kann trotzdem schwarzsehen
Aber wer sagt denn eigentlich, dass ich sprachlos bin, während der vier Jahre
Nur weil ich meine Stimme abgegeben habe
Aber klar wurmt mich die Frage, ob der Direktkandidat,
Dem ich meine Stimme geben kann, mich auch vertritt
Muss der sich vorher nicht erst vertreten
Um auf mich zu treffen
Und überhaupt, was sagt mir mein Verstand
Oder ist das Bauchgefühl der bessere Ratgeber
Oder sollte ich in der Wahlkabine zu würfeln anfangen
Und oder was ist eigentlich mit den Kleinen
Der Nein- oder Nichtwählerpartei
Sind das Alternativen
Die darauf bestehen, dass es keine ungültigen Stimmen geben darf,
Sondern die Meinung Nein,
Aber Hingehen auf jeden Fall
Um sich nicht zum Verlierer machen zu lassen
Weil man trotzig hinterm Ofen sitzen bleibt
Nichthingehen ist nicht alternativlos
Und kann keine Alternative sein
Es ist der schlimmste Weg, den man wählen kann
KAPITULATION
Es ist keine Sprache
Keine Stimme mehr haben zu wollen
Die Menschheitsgeschichte ist gemessen am Alter der Erde
Und was alles vorher hier schon los war
Sehr klein
Einen Wimpernschlag ist es her
Dass es Menschen gab
Die bis hin zu ihrem Leben
Alles einsetzten um eine Stimme zu bekommen
Und alles verloren dabei dafür
Ein halber Wimpernschlag her nur
Ist die Forderung nach Freien Wahlen
Das sorgenfreie Nutzen der Wahlkabine
Die Wahl
Ist unser Fingerzeig
Und unsere Wahl
Der Auseinandersetzung
Wie es läuft mit diesem Land
Und mit diesem mit den anderen
Wer seine Stimme zählen lässt
Hat die Sprache mitzureden
Und ich persönlich möchte nicht
Von jemanden, der nicht zur Wahl geht
Irgendeinen Link zu irgendeiner Petition
Und sei sie noch so wichtig bekommen
Das ist scheinheilig hoch drei
Diese Möglichkeit gäbe es nämlich nicht
Wenn es nicht die Möglichkeit geben würde
Dass deine und meine Stimme eine Wahl mitbestimmen können
DIE HAUPTSACHE IST
DU ZIEHST DEINE SCHUHE UND JACKE AN
MACHST EINEN KLEINEN SPAZIERGANG
UND
BIST DABEI

MOTZMANN und andere Zustände

Eine musikalische Lesung mit Antje Jülich (Texte) & Hagen Damwerth (Musik)

 
Ausschnitt vom 22.11.2012 La Boheme Berlin-Prenzlauer Berg
 

 

Die Texte sind Miniaturen – als Momentaufnahmen erzählen sie mit subtilem Humor vom Alltag in einer Großstadt. Es sind gesammelte Details gelebter und erlebter Zustände, die poetisch reflektiert werden.
 
Jede Lesung ist anders, weil es immer wieder neue Texte gibt. Schließlich erlebt man tagtäglich eine Vielzahl von Zuständen. Nur Anfangstext und Endtext bleiben und bilden den Rahmen. Dazu zählt die ungehaltene Rede eines ungehaltenen Mannes, in der der Zustand unseres alltäglichen Wahnsinns hinterfragt wird.
 
Hagen Damwerth’s musikalische Improvisationen auf verschiedenen Instrumenten verweben sich einerseits mit den Texten, so dass Worte und Töne collageartig verschmelzen, sich wechselseitig vorantreiben, und verführen anderseits mit ihren ganz eigenen Assoziationen zum Hören.
 

(…) Doch immer ist da
Etwas,
Das mich unglaublich
Angeht
Etwas,
Was mir unglaublich nahe
Geht
Etwas,
Dem ich nahe komme
Etwas
Auf seine Weise
Rüttelt mich wach (…)

 

Flyer: Frank Baethge
Flyer: Frank Baethge